Leseprobe aus "Ihr ständiger Begleiter"
Die jungen holländischen Kerle waren laut, ihre Sprache erinnerte Johanna an übermüdete Fischer, denen frisch gegrillte Makrelen im Hals kratzten. Es klang, als husteten sie beim Sprechen unentwegt Gräten heraus. Endlich sah Rob sie an der Tür stehen, winkte sie heran und zog sie neben sich. Das einzige Mädchen inmitten fröhlicher Sünder. Johanna zitterte im Sommer, hier begann etwas Neues.
Der Anpfiff verzögerte sich, weil die Eckfahnen fehlten. Der Kommentator regte sich herrlich darüber auf. Die ganze Welt schaute auf München, deutsche Gründlichkeit, und dann ein Finale ohne Eckfahnen! Rob trank zwei Bier, dann steckten die Fahnen endlich. Es ging los, die Jungs starrten, stöhnten, riefen, sprangen auf, setzten sich wieder. Hofften, ja beteten. Vergaßen sich wie kleine Kinder im Theater, den Mund vor Konzentration halb offen. Mal erschraken sie, immer gemeinsam, wie von einem Dirigenten geführt. Mal rissen sie die Arme hoch, stöhnten dabei hingegeben auf. Alle zusammen, immer dasselbe. Ein glückseliger Männerbrei, warm gekocht.
Als Hoeneß in der ersten Minute foulte und Neeskens den Elfmeter verwandelte, legte Rob vor Fußballseligkeit den Arm um Johanna. Diese Zärtlichkeit dauerte eine halbe Stunde, dann wurde Hölzenbein gefoult, und Breitner glich aus. Rob nahm seinen Arm empört von der Westdeutschen, doch es kam noch ärger:
„Und prompt ist der Ball bei Bonhof gelandet, im Sechzehnmeterraum, spitzer Winkel zum Tor, da kommt der Ball auf Müller, der dreht sich um die eigene Achse, schießt und: Tor! Tor durch Gerd Müller!“
Zwei zu eins, Deutschland führte. Rob schaute Johanna so böse an, als habe sie selbst das Tor erzielt, als sei sie Müllers Schwester: „Wieso ihr, warum immer die Deutsche? Bombardiert Rotterdam und jetzt noch das!?“
In der Halbzeitpause trank er viel, reichte auch ihr missmutig ein Bier, sprach aber nur mit seinen Freunden.
Johanna war das alles so herrlich gleichgültig. Kein Bekenntnis war hier nötig, doch den Jungen schien es um alles zu gehen. Johanna trank zum ersten Mal Bier. Bitter, fand sie. Erfrischend wie Lukas´ Zitronenlimo. Noch eins.
In der zweiten Hälfte schimpften alle Holländer über einen, der Sepp Maier hieß. Weil dieser Sepp ihn hatte, den Ball. Selbst Johanna, die Ahnungsloseste unter allen Zuschauern, sah: Der Sepp hält jeden Ball! Chancen hatten die Niederlande, aber sie bekamen das Ding einfach nicht rein. Das Spiel war aus.
Deutschland hatte schlechter gespielt, aber gewonnen. Johanna war Weltmeister, Rob heulte. Richtig mit Tränen, die übers Gesicht liefen. Die anderen Kerle auch, ungeniert. Scheiß Hölzenbein, der Elfmeter-Schinder. Ihre Leidenschaft übertrug sich auf Johanna. Es musste tatsächlich sehr wichtig sein, hier gewonnen zu haben. Vor zwei Stunden hatte sie nicht mal gewusst, dass es überhaupt um etwas ging. Nicht ohne einen gewissen Stolz grinste Johanna verschmitzt. Man konnte nicht verlangen, dass sie sich ärgerte, wenn ihr eigenes Land gewann.
Rob hustete mit seinen Freunden noch ein paar Gräten, dann lächelte er und suchte zusammen mit ihr das Spiel zu vergessen, ausgerechnet mit einer Deutschen. Auf dem Gang zum Hinterhof drückte er sie gegen die Wand, lehnte seinen ganzen Körper gegen ihren, legte seine lieben Hände um ihren Kopf, zog ihren Mund zu sich hoch und küsste sie. Streichelte ihre Haare, kraulte sie, flüsterte liefje und meisje und andere fremde, wunderbare Worte und küsste sie wieder. Johanna stellte keine seiner Berührungen in Frage, wenn er nur damit weitermachte.
Die beiden waren nicht allein. Ihr ständiger Begleiter war seit der Geschichte mit der roten Hose keine Sekunde von ihrer Seite gewichen. Er hatte schon während des Spiels neben ihr sitzen wollen, aber es gab keinen Platz mehr am Tisch, die Luft war Ihm zu dünn, die Jungs vor dem Fernseher zu laut. Deshalb hatte Er sich in die Nähe der Tür gestellt, da war Ihm etwas wohler.
Jetzt im Gang zum Hinterhof atmete Er schwerer als üblich und ging hinter den beiden eng Umschlungenen nervös auf und ab. Schaute hin, stöhnte sorgenvoll auf, ging weiter. Kam zurück, mahnte Johanna zur Eile, zum Weitergehen. Hilflos schien Er gar: „So, jetzt nimm deinen Schlitten und geh.“
Johanna tat, als bemerke sie Ihn nicht, der sich jetzt neben sie an die Wand lehnte, die Arme vor der Brust verschränkte, sie von der Seite vorwurfsvoll anschaute und die Sache stumm verfolgte.
Johanna fühlte sich seltsam mutig. Sie war immerhin Weltmeister geworden, sie hatte Bier getrunken. Rob sah Ihn ja nicht, Gott sei Dank. Hatte Er das Spiel gesehen? Natürlich hatte Er, was blieb ihm übrig! Hier war ein Junge, der küsste. Fast ein Mann. Der noch was ganz anderes wollte, wenn sie ihn ließe und er sich traute. Schon berührte seine Hand ihre Haut, streichelte ihren Bauch. Es ärgerte Ihn, was hier geschah, das war klar. Und doch hatte keiner seiner Vorwürfe eine Wirkung. Konnte Er denn etwas dagegen machen?
Es erstaunte Johanna, Er war nicht allmächtig, Er konnte nicht! Er versuchte es mit Drohungen:
„Ich brauche nicht zu warnen, ich weiß, wie es endet.“
„Wie endet es denn?“, fragte sie patzig.
„Du wirst ihn nie vergessen können.“
„Schön!“
„Nein, Liebes. Das ist nicht schön, das nicht vergessen zu können. Für Liebende ohne Zukunft ist es die Hölle.“
3 1 Die Schlange war listiger als alle Tiere des Feldes, die Gott gemacht hatte. Sie sprach zu Johanna, die ihren ersten Freund begehrte: „Hat Gott wirklich gesagt, er darf dich nicht anrühren?“
2 Johanna antwortete der Schlange: „Nur, wenn ich seine Frau bin. Das sollt ihr nicht machen, spricht Gott, damit ihr nicht sterbet.“
3 Darauf sprach die Schlange zu ihr: „Keineswegs, du wirst nicht sterben. Dir werden die Augen aufgehen und du wirst deinen eigenen Willen entdecken.“
Er summte jetzt das Lied von der Hornisse mit der Haube, da im Flur an der Wand. Und Johanna gehorchte Ihm.
Pass auf kleine Hand – sie berührte Rob nicht, sondern legte ihre Hände hinter den Rücken, als fessele sie sich selbst.
Pass auf, kleiner Mund – sie sprach kein Wort mehr mit Rob. Pass auf, kleines Auge – sie sah Rob nicht mehr an, sondern schloss ihre Augen.
Pass auf, kleiner Fuß – sie ging keinen Schritt mehr, sondern ließ sich in Robs Arme fallen. Er trug sie hoch in sein Zimmer und legte sie auf sein Bett.
Pass auf, kleines Ohr – sie hörte nicht mehr, was Rob fragte, sagte, wie er stöhnte.
Die Hornisse hatte in ihrem Lied etwas vergessen, riechen und schmecken fehlten. Es gab keine Strophen dagegen.
Brauchst nicht aufpassen, kleine Nase, was du riechst.
Brauchst nicht aufpassen, kleine Zunge, was du schmeckst. Denn der Vater in dem Himmel hat was anderes zu tun.
4 Johanna erkannte, dass ihr Freund entzückend war. Und sie nahm von seiner Frucht, roch und schmeckte ihn.
5 Da gingen ihr die Augen auf und der Mund, die Hand und das Ohr.
6 Und sie erkannte, dass sie nackt war und sich doch nicht schämte.
Er hatte wahrhaftig dabei zugesehen. Johanna sah, dass Ihm Tränen über die Wangen liefen, so weh tat Ihm ihre Lust. Johanna war zu weit gegangen, sie selbst war berauscht davon, endlich einmal.
Jetzt erst verließ Er den Raum. Später in der Nacht, als alles ruhig schien, öffnete Er wieder leise die Tür. Stellte sich ans Fußende des Bettes, weckte Johanna und warnte sie ein letztes Mal, sie sollte aufstehen und mitkommen. Johanna schmiegte ihren nackten Körper wortlos an Rob und zog die Bettdecke über den Kopf.
Am Morgen danach war Er verschwunden. Brennender Schmerz hatte sie geweckt: Überall dort, wo sie an Robs Körper gelegen hatte, war ihre Haut tiefrot geschwollen und wund – als habe sie sich verbrannt. Er konnte auch anders.
Auszug mit freundlicher Genehmigung © Piper-Verlag GmbH München 2007