Leseprobe aus "Emmas Glück"
Max wagte sich noch weiter vor. Er hatte das Gefühl, ihr helfen zu müssen. Aber wie? Was hatte sie vor? So was konnte die doch nicht allein!
Das Schwein lag noch immer ruhig da, gab keinen Ton von sich. Während Emma weiter behutsam mit dem Tier sprach, drehte sie es auf den Rücken. Jetzt ging alles sehr schnell: Emma zückte das scharfe lange Messer und schnitt dem Schwein ohne Zögern mit einer schnellen präzisen Bewegung die Kehle durch. Das Blut spritzte heraus, das Schwein lag regungslos da, aber Emma hielt es weiter an den Beinen fest. Sie begann laut zu zählen:
"Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht."
Die Atmung des Tieres verlangsamte sich, wurde flacher. Das Blut strömte rhythmisch aus dem Schnitt heraus, auf die Steine und floss weiter. Das Schwein schaute Emma mit großen Augen an. Jetzt bewegte es sich, die Muskeln krampften. Max war jetzt ganz dicht bei Emma und hörte, wie sie leise und zärtlich auf das Tier einsprach:
"Mein liebes Schweinchen, meine kleine Schwester. Danke, dass du bei mir warst, ich hab dich lieb, so lieb gehabt. Es tut nicht weh, siehst du? Ich hab's dir doch versprochen, dass es nicht wehtut. Auf Wiedersehen, mein Schweinchen. Auf Wiedersehen."
Nach und nach versiegte der Blutstrom und das Schwein ließ langsam und still sein Leben aus sich herausfließen, in Emmas festem Arm geborgen.
Fassungslos schaute Max zu und zitterte am ganzen Körper. Emma beachtete ihn nicht. Erschöpft stand sie auf und ging zu einer Schüssel, die mit warmem Wasser gefüllt war. Sie wusch sich die Hände. Wusch das Blut ab. Wusch auch das Messer ab und legte es beiseite. Trocknete die Hände, schüttete das Wasser über ihre blutverschmierte Schürze, nahm einen Schlauch und spritzte den Boden ab. Das tote Tier lag regungslos da, mit einer klaffenden Wunde am Hals.
Max flüsterte: "Das habe ich noch nie gesehen."
Er hatte eigentlich sagen wollen, er habe noch nie eine so starke Frau gesehen wie Emma. Noch nie.
Schweigend ging sie in den Garten und pflückte einen Apfel. Sie holte das Messer, hielt es Max vor die Brust, mit der Schneide nach oben. Sie ließ den Apfel aufs Messer fallen - und er fiel schnell und glatt in zwei Hälften zu Boden.
"Ich darf dem Messer keinen Druck geben. Es muss durch den Hals gleiten. Interessiert dich, warum ich es so mache?"
Er nickte.
"Am schlimmsten für die Tiere ist die Angst vor dem Tod, nicht der Tod selbst."
Max fragte: "Der Tod ist nicht schlimm?"
"Nicht, wenn jemand sie fest hält. Nicht, wenn man ihnen schnell und richtig die Kehle durchschneidet. Dieser Tod ist wie der Tod in der freien Natur. Wenn zum Beispiel ein Schaf von einem Wolf gerissen wird. Da werden beim sterbenden Tier Hormone freigesetzt, die wirken wie ein Narkosemittel. Stark wie Morphium, das Tier stirbt ohne Schmerzen."
"Wer sagt das?" "Der Bartmann hat's mir erzählt. Ein Eremit, der früher hier gelebt hat. Er hat selbst kein Fleisch gegessen, aber er hat es mir erklärt."
"Und vorher? Die Angst?"
"Meine Schweine kennen mich. Sie ahnen nichts Böses, sie laufen mir nach, haben Vertrauen. Das nutze ich aus."
"Du nutzt das aus, ja? Sie vertrauen dir, und du tötest."
"Schweine sind dazu da, getötet zu werden. Sie leben herrlich, um gesund zu sterben und zu Wurst zu werden. Sie leben ohne Sorgen und bei mir haben sie sogar einen glücklichen Tod."
"Welcher Tod ist schon glücklich?" Emma sah Max an, fing seinen Blick auf. Hielt ihn mit ihren Augen fest und sagte: "Der von meiner Hand."
© Reclam Leipzig 2003