Leseprobe aus "Moskau ist anders"
Olga Alexandrowna ist fünfzig Jahre alt, eine Perle von Mensch mit stattlichem Körperbau und weißrussischer Seele. Sie stammt aus Minsk, das betont sie oft, also muss es sehr wichtig sein.
Sie verwöhnt unsere Kinder viel zu sehr und weint, wenn wir über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft reden.
Ich habe sie kennen gelernt, da hat sie noch eine Baubrigade organisiert: Handwerker hierhin und dorthin geschickt, Preise ausgehandelt, die Arbeit kontrolliert und einen Hungerlohn dafür bekommen. Trotzdem war sie damals schon freundlich, geduldig und zuverlässig; kurzum, eine weltweite Rarität. Erst recht hier.
Sie erträgt mein schlechtes Russisch; sie besorgt frische Eier, sie bäckt begnadete Blinis und liebt es, sie mit Cointreau zu tränken. Dann sitzen wir am Tisch, und der Tag ist gelaufen.
Dank ihrer Hilfe wird Lukas zweisprachig groß. Wenn die beiden zusammenhocken und ein Bilderbuch anschauen, und mein eigener kleiner Sohn zeigt auf Mischka oder Koschka, oder sagt Stol und Maltschiki, könnte ich heulen vor Freude. Mich hat man als Kind Russe geschimpft, wenn ich etwas angestellt hatte, "Du Russe!" Ich wusste damals gar nicht, was Russen sind. Heute sprechen meine Kinder ihre Sprache.
Und dennoch! Es hilft nichts, die Wahrheit muss raus! Sie sind und bleiben anders als wir. Weißrussisch oder ganz russisch - es gibt Unterschiede, da kommen wir gerade bei Olga nicht drum rum.
Manchmal wäscht sie die Schubladen aus, Löffel, Gabel, Messer - alles hat sein kleines Fach. Nachdem sie die Schubladen sauber gemacht hat, legt sie die Löffel und die Gabeln und die Messer in andere Fächer, tauscht sie, wechselt von links nach rechts oder umgekehrt. Wenn ich, der alten Gewohnheit folgend, nach einem Messer greifen will, habe ich 'ne Gabel in der Hand. Vielleicht bin ich bekloppt, aber mich irritiert das.
Gibt es eine Schublade für Socken, kommen morgen Unterhosen rein. Es gibt kein Argument, das festlegen könnte: Heute Sockenfach, immer Sockenfach.
Warum? Wozu? Da ist ein Schrank, und da kommen die Sachen rein. Eta fsio. Ich habe mein Leben nicht darüber nachgedacht, wie man ein Brot abschneidet. Scheiben, was sonst? Olga dagegen schneidet, wie es kommt. Will Lukas nur eine kleine Kante haben zum Rumknabbern, schneidet sie eine kleine Kante ab. Oder will sie was zur Suppe, nimmt sie es von der anderen Ecke. Jeden Abend habe ich ein Brot, das absolut ungerade ist. Zerfleddert an der Schnittseite. Das nervt mich.
Oder regt mich das auf, weil ich doch so zwanghaft deutsch bin und das erst hier im Ausland merke?
Denn dann küsst sie meine Kinder und bleibt länger, weil ich Bauchweh habe und mich ins Bett verkriechen will.
Sockenfach und Brotkante? Ich hab sie doch nicht mehr alle!
Mnje plevat.
© Claasen Verlag GmbH Hildesheim 1994